Sichtbar werden als Frau: Wie du jahrhundertealtes Trauma hinter dir lässt
„Was ich zu sagen habe, interessiert doch niemanden!“ Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass das vielleicht gar nicht dein Glaubenssatz ist? In Wirklichkeit ist dieser Glaubenssatz das Erbe vieler Frauen, die vor dir gelebt haben. Frauen, für die es gefährlich war, sich einzumischen, sich zu zeigen und Aufmerksamkeit zu erregen.
In diesem Blogbeitrag geht es darum, warum es für uns Frauen seit jeher schwieriger ist als für Männer, sichtbar zu werden. Du erfährst, welchen Rucksack wir seit ewigen Zeiten mit uns herumtragen, wie das Trauma der Unsichtbarkeit weitergegeben wird und vor allem: Mit welchen 3 alltagstauglichen transformierenden Übungen du deine Angst, sichtbar zu werden, überwinden kannst.
Zu Beginn möchte ich dir die Geschichte von Judith erzählen.
Bist du bereit? Los geht’s!
Inhalt
Toggle1. Warum fällt es mir so schwer, sichtbar zu werden? - Judiths Geschichte
Judith ist eine kluge Frau, die ihr BWL-Studium mit Bestnote abgeschlossen hat. Sie hat 15 Jahre lang in internationalen Unternehmen gearbeitet und war dabei sehr erfolgreich. Dank Ihres Wissens und ihres diplomatischen Geschicks war sie immer eine sehr geschätzte Kollegin, auch wenn sie eher im Hintergrund agierte.
Irgendwann reichte es ihr nicht mehr, für andere zu arbeiten. Sie wollte ihr eigenes Ding machen. Sie entschied sich, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Ihr Ziel: Andere selbständige Frauen dabei zu unterstützen, ihr Unternehmen finanziell stark aufzustellen. Judith sprudelte vor Ideen und hatte schon einigen Frauen geholfen, ihr Business erfolgreich zu machen.
Ihre Beiträge, die sie für LinkedIn und Instagram schrieb, waren super gut formuliert und recherchiert und zeigten ihre Expertise. Trotzdem: Nachdem sie auf den „Veröffentlichen“-Knopf geklickt hatte, überkam sie jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Was, wenn niemand reagiert? Was, wenn jemand einen dummen Kommentar abgibt? Oder schlimmer noch – einen Fehler entdeckt?
Die Stunden nach einem Post waren für sie eine echte Qual. Sie fühlte sich extrem unruhig, checkte ständig ihr Handy, um zu sehen, wer geliked oder kommentiert hatte. Zu arbeiten war in diesen Stunden nur schwer möglich für sie. Judith wusste, dass sie kompetent war und ein wertvolles Angebot hatte, aber dieses Gefühl der Unsicherheit machte ihr sehr zu schaffen. Sie konnte sich nicht erklären, woher das kam.
Judith spürte intuitiv, dass ihre Angst, sichtbar zu werden, tiefer ging und es nicht nur die Furcht vor Kritik in den sozialen Medien war, die ihr so viel innere Unruhe bescherte. Es war, als ob sie eine Last trug, die nicht nur ihre eigene war. Als sie begann, sich intensiver mit ihrer Familie zu beschäftigen, wurde ihr nach und nach etwas bewusst.
Die Mutter von Judith war eine zurückhaltende Frau. Als Judith noch klein war, hörte sie oft Sätze wie: „Sei nicht so laut, benimm dich, sei still – was sollen denn die Leute denken!“ Auch Judiths Großmutter war eine stille Frau, die selten sprach und nicht gern im Mittelpunkt stand.
Judith begann, sich mit Ahnenforschung zu beschäftigen, und machte eine schreckliche Entdeckung: Eine ihrer Vorfahrinnen hatte einst auf einem Volksfest wild und ausgelassen getanzt und damit die Blicke der anderen Besucher auf sich gezogen. Auf dem Heimweg war sie deswegen getötet worden. Zur damaligen Zeit galt eine Frau wie die Urahnin von Judith als ein wild, hysterisch und krank. Eine Frau, die man besser tötete, damit sie keinem Schaden zufügte.
Die Töchter dieser Frau waren entsetzt. Was sich tief bei ihnen einprägte: Als Frau darfst du keine Aufmerksamkeit erregen, denn das könnte lebensgefährlich sein. Dieses Trauma setzte sich fest und wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Judith begann zu verstehen, dass ihre Angst, sichtbar zu werden, nicht nur ihre eigene war. Sie trug das Erbe vieler Frauen in sich, die gelernt hatten, dass Sichtbarkeit Ausgrenzung, Strafe, Gewalt, oder sogar den Tod bedeuten konnte.
Doch Judith wollte diesen Kreislauf durchbrechen. Sie machte sich bewusst, dass die Zeiten sich geändert hatten. Also begann sie, sich mehr und mehr zu zeigen: Ihre Meinung zu sagen, auf Social Media aktiv zu werden und auch im echten Leben präsenter zu sein. Sie tat es für sich, aber auch für all die Frauen, die vor ihr gelebt hatten und für die, die nach ihr kommen würden.
Wie Judith geht es so vielen Frauen. Sie sind super kompetent, klug und haben der Welt etwas zu geben. Doch immer, wenn sie sich zeigen wollen, fühlen sie sich unwohl. Wie ist es bei dir? In welcher Situation wärst du gern sichtbarer? Vielleicht würdest du in Gesprächen gern mehr zu deiner Meinung stehen, vielleicht hast du Lust, mal ein Youtube-Video zu machen und über dein Lieblingsthema zu sprechen, traust dich aber nicht. Vielleicht würdest du dich auch gerne auf eine Führungsposition bewerben, traust dich aber nicht, weil du denkst, du bist noch nicht gut genug.
Ich vermute, du hast dein ganz eigenes Thema mit der Sichtbarkeit. Überleg mal, in welcher Situation du gerne sichtbarer werden würdest, denn später zeige ich dir eine Übung, wie du deine Angst, sichtbar zu werden, verwandeln kannst.
Lass uns nun einmal schauen, woher der ganze Schlamassel mit der Angst vor der Sichtbarkeit kommt.
2. Was haben sich Aristoteles und Rousseau eigentlich dabei gedacht?!
2.1. "Das Weib ist ein missglückter Mann." - Antikes Griechenland und Rom
Beginnen wir in der Antike. In den meisten antiken Gesellschaften hatten Frauen keine oder nur sehr eingeschränkte öffentliche Rechte. In der griechischen Antike, insbesondere in Städten wie Athen, wurden Frauen von öffentlichen und politischen Angelegenheiten ausgeschlossen. Sie sollten im privaten Bereich bleiben, sich um den Haushalt kümmern und keine eigene Sichtbarkeit im öffentlichen Raum anstreben. Wer sich anders verhielt, wurde kritisiert und verachtet. Aristoteles sagte über Frauen: „Das Weib ist ein missglückter Mann.“
Bisher fand ich Aristoteles eigentlich immer ganz gut. Ich habe meine Masterarbeit über Glück geschrieben und dabei seine Definition von Glück verwendet. Aber nach dem Spruch zweifle ich ehrlich gesagt schwer an ihm.
2.2. Das Mittelalter und die Hexenverfolgung
Im Mittelalter wurden viele Frauen, die durch ihr Wissen, Einfluss oder Heilkunst sichtbar wurden, verfolgt. Vor allem im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung im 15. bis 17. Jahrhundert in Europa wurden Frauen, die als zu selbstbestimmt oder ungewöhnlich galten, häufig als Hexen denunziert.
Besonders Frauen, die über Heilwissen verfügten oder außerhalb der gesellschaftlichen Normen lebten, wurden als gefährlich angesehen. Ihre Sichtbarkeit führte oft zur Beschuldigung, Hexerei zu betreiben, was zu Folter und Tod führte.
Während der Hexenverfolgung in Europa wurden geschätzt 60.000 bis 110.000 Menschen hingerichtet. Dreiviertel der Opfer waren Frauen, die in irgendeiner Weise „auffällig“ waren, wurden verbrannt oder erhängt.
Lassen wir wieder einen Mann zu Wort kommen, und zwar in dem Fall den französischen Rechtsgelehrten Jean Bodin (1530–1596): „Das natürliche Verhalten der Frauen, das durch Eifersucht, Rache und Bosheit geprägt ist, führt sie leicht in die Hexerei.“
Ganz schön traurig, oder?
2.3. Die Französische Revolution
Obwohl die Französische Revolution als großer Fortschritt für die Rechte des Menschen gilt, erlebten Frauen , die sich für die Gleichberechtigung der Frau einsetzten, starke Repressionen. Olympe de Gouges (1748–1793), eine der berühmtesten Feministinnen dieser Zeit, schrieb die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791), ein bahnbrechendes Dokument, das die Gleichstellung der Geschlechter forderte. De Gouges wurde während der Revolution hingerichtet. Zum Glück lebten zumindest ihre Ideen fort und inspirierten die spätere Frauenrechtsbewegung.
Ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution war Jean-Jacques Rousseau. Er vertrat die Ansicht: „Die Frau ist für den Mann gemacht, der Mann ist für die Gesellschaft geboren.“
Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, wenn du so was liest. Ich möchte mich ehrlich gesagt übergeben. Wie viel Unrecht und Hass uns Frauen in den letzten 2000 Jahren widerfahren ist! Kein Wunder, dass uns das noch in den Knochen steckt, oder?
3. Trauma – was ist das jetzt eigentlich noch mal genau?
Trauma ist eine ganz normale, emotionale und körperliche Reaktion auf ein unnormales und überwältigendes Ereignis. Es kann ausgelöst werden durch Gewalt, Naturkatastrophen, den Verlust einer nahestehenden Person oder andere Ereignisse, die für den Menschen extremen Stress bedeuten.
Das traumatische Ereignis übersteigt die Fähigkeit einer Person, damit umzugehen. Trauma ist eine Überlebensreaktion, die uns vor der Wucht der viel zu großen Energie schützt, indem die Trauma-Energie und die damit verbundenen Sinneseindrücke fragmentiert im Körper gespeichert werden. Die Trauma-Energie kann somit nicht adäquat verarbeitet werden, sondern bleibt im Körper „stecken“. Damit führt Trauma oft zu langfristigen Veränderungen im Nervensystem, in den Gefühlen und Verhaltensmustern eines Menschen.
Traumafolgestörungen, die sich aus dem unverarbeiteten Trauma entwickeln können, gehen oft mit körperlichen Symptomen einher. Trauma beeinflusst, wie eine Person die Welt wahrnimmt und wie sie mit Stress und Herausforderungen umgeht. Das heißt, Trauma kann unsere gesamte Identität erschüttern – und oftmals ist uns gar nicht bewusst, dass wir Trauma in uns tragen.
Spannend, oder? Aber warum pflanzt sich Trauma über die Generationen fort?
4. Von der Urururoma bis zur Tochter: Transgenerationales Trauma
Verena König, Traumatherapeutin und Bestseller-Autorin, sagt über transgenerationales Trauma, dass es eine gravierende und enorm unterschätzte Rolle im kollektiven Weltgeschehen spielt. „Durch die Dynamiken der transgenerationalen Weitergabe von Trauma befinden wir uns in zahlreichen destruktiven Kreisläufen, die zu nicht enden wollendem Leid führen.“ [1]
Zu den kollektiven, transgenerationalen Traumatisierungen gehören: Sklaverei, Kriege, Völkermord, der Holocaust, die Enteignung von Bevölkerungsgruppen sowie alle Formen der Diskriminierung, wie zum Beispiel die Diskriminierung von Frauen, die über Jahrhunderte bestand.
4.1. So wird Trauma von Generation zu Generation weitergegeben
4.1.1. Über Verhaltensmuster
So wie Judith geht es allen Kindern: Wie unsere Eltern sich verhalten, was sie sagen, welche Glaubenssysteme sie haben und wie sie uns ihr Leben vorleben – das übernehmen wir fast automatisch. Das ist ein ganz natürlicher Prozess, der sich Introjektion nennt. Auf diese Weise lernen wir, mit der Welt umzugehen. Vor allem als kleine Kinder sind wir nicht in der Lage, zu hinterfragen, was uns vorgelebt wird. Wir glauben ja schließlich auch an die Zahnfee und den Osterhasen. Wir übernehmen unhinterfragt alles in unser Inneres. Erst später im Teenager-Alter fangen wir an, uns immer mehr abzunabeln und beginnen, zu reflektieren und nicht selten zu rebellieren.
4.1.2. Während der Schwangerschaft
Toxischer Stress der Mutter während der Schwangerschaft wirkt sich direkt auf die Hirnentwicklung und auf bestimmte Gene des Ungeborenen aus. Frühe Stresserfahrungen prägen die Genexpression, das Nervensystem und das Gehirn des Kindes. Die Traumatisierungen, die die Mutter während der Schwangerschaft erlebt, bzw. die Traumafolgesymptome, unter denen sie leidet, beeinflussen das Gesamtsystem des Babys also schon vor seiner Geburt.
4.1.3. Trauma beeinflusst, welche Gene „an-“ und „ausgeschaltet“ werden
Wenn ein Mensch ein Trauma erlebt, verändert sich sehr viel im Organismus: Die Zellen des gesamten Organismus müssen sich anpassen. Es ändert sich zwar nicht DNA selbst, aber Gene können durch eine chemische Markierung an und ausgeschaltet werden. Bei Menschen, die Trauma erlebt haben, wurde beobachtet, dass die Gene, die für die Stressbewältigung und Angstregulierung verantwortlich sind, weniger aktiv sind, was dazu führt, dass der Cortisolspiegel (Cortisol ist ein Stresshormon) schlechter reguliert werden kann.
Dieser noch recht junge Forschungsbereich ist der Bereich der Epigenetik. In Studien hat man beispielsweise herausgefunden, dass die Nachfahren von Holocaust-Überlebenden das Trauma bzw. die Stressreaktion „geerbt“ hatten und beispielsweise unter Alpträumen, Verfolgungsangst, Identitätsproblemen und einem geringen Selbstwertgefühl leiden. [3]
5. Wir sitzen alle im selben Boot - Kollektives Trauma
Ein kollektives Trauma betrifft eine Gruppe von Menschen, die Traumatisches erlebt hat, wie zum Beispiel Genozide, Atomunfälle wie Tschernobyl oder Fukushima, Kriege, Rassismus und Diskriminierung.
Die Diskriminierung von Frauen reicht von rechtlicher Ungleichheit (wenn wir in die Geschichte zurückblicken oder uns andere Kulturkreise auf dieser Welt anschauen) über Ungleichheit in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt, über Rollenerwartungen („Den Haushalt zu schmeißen ist Aufgabe der Frauen!“) bis hin zu häuslicher oder sexueller Gewalt.
Es gibt hier also ein breites Spektrum an unausgesprochenen Erwartungshaltungen, Verhaltensweisen und Worten, was nicht nur Männer in sich tragen, sondern auch Frauen internalisiert haben. Die kollektive Erfahrung von Diskriminierung und Ungerechtigkeit führt zu gemeinsamen emotionalen, psychischen und sozialen Folgen für Frauen als Gruppe. Das kann ein Gefühl von Ohnmacht, Minderwertigkeit oder Angst sein.
5.1. Kennst du diese unsichtbaren Frauen?
6. Das kannst du tun
Wir Frauen haben ein kollektives Trauma bezogen auf Sichtbarkeit. Das erkennen wir zum Beispiel daran, dass es viel weniger weibliche als männliche Vorstände gibt. Der Anteil an Frauen in Vorstandspositionen in börsennotierten Unternehmen ist nach wie vor geringer und liegt bei 19,3 %. [3]
Der Nobelpreis wurde bisher nur zu 6,7 % an Frauen vergeben. Manche Frau, die Großes geleistet hat, ist weitgehend unbekannt, wie zum Beispiel Hedi Lamarr, die die Technologie erfunden hat, mit der wir heute GPS, Bluetooth und WLAN nutzen.
Ein weiteres Beispiel ist die Mathematikerin Ada Lovelace, die als die erste Programmiererin der Welt gilt – aber kaum einer kennt sie.
Menschen wie Mark Zuckerberg oder Bill Gates kennt jeder, aber hast du schon mal von Melanie Perkins gehört? Sie ist die Gründerin von Canva, einem kostenfreien Grafik-Design-Programm, das es für jeden Menschen möglich macht, ohne großartige Vorkenntnisse seine eigenen Designs zu entwickeln. Canva hat über 85 Millionen Nutzer weltweit. Warum kennt niemand Melanie Perkins?
Allein anhand dieser 5 Beispiele können wir erkennen, dass wir dieses Trauma als Kollektiv noch nicht hinter uns gelassen haben. Wie geht es dir, wenn du das schwarz auf weiß liest? Denkst du dir auch, „was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!?“
Dann möchte ich dir jetzt zeigen, was du tun kannst, um dich Schritt für Schritt von deinem Trauma zu befreien und damit das kollektive Trauma ein Stück weit mit aufzulösen.
In diesem Abschnitt zeige ich dir, wie du deine eigenen Glaubenssätze erkennst und auflösen kannst, um mehr Sichtbarkeit und Selbstvertrauen zu gewinnen.
6.1. Erkenne dein Trauma
Der erste Schritt könnte sein, dass du beginnst, deine eigenen Traumata zu verstehen. Stelle dir dazu folgende Fragen:
- Wie haben sich deine weiblichen Verwandten – Mütter, Großmütter, Tanten, ältere Schwestern verhalten?
- Wie wurde mit Stress und mit Gefühlen umgegangen?
- Wie solltest du sein? Welche Reaktions- und Verhaltensmuster hast du übernommen?
- Welche (Glaubens-)Sätze hast du immer wieder gehört oder zu spüren bekommen?
- Möchtest du das beibehalten?
- Welche Rolle spielten deine männlichen Verwandten?
- Was wurde von dir erwartet?
Wenn du diese Fragen für dich beantwortest, kannst du womöglich erste Hinweise erkennen, warum du bist, wie du bist und warum du an der ein oder anderen Stelle struggelst. Am wirksamsten ist das, wenn du es aufschreibst. Durch handschriftliches Schreiben können wir tiefe Reflexionsprozesse anregen und deine Gedanken werden nicht nur greifbarer, sondern du kannst Distanz schaffen, in dem du deine Überlegungen externalisierst und zu Papier bringst.
6.2. „Wen interessiert denn, was ich zu sagen habe?!" - Typische Glaubenssätze und das Gefühl von Unsicherheit
Ähnlich wie Judith in der Geschichte geht es vielen von uns: Es fühlt sich sehr unangenehm an, sichtbar zu sein.
Wir fühlen uns unsicher und haben Angst vor Angriffen oder Kritik.
Wir glauben, nicht gut genug zu sein, um sichtbar werden zu können. Wir denken „Ich bin noch nicht Expertin genug“ oder „Was ich zu sagen habe, ist nicht wichtig.“ oder „Ich muss erst noch die Weiterbildung XY machen, bevor ich gut genug bin.“
Wir fürchten uns vor Ablehnung und Verurteilung durch andere „Was soll meine beste Freundin aus der 10. Klasse denken, wenn ich das jetzt in meinem Whatsapp-Status poste?!“
Oft geht das Gefühl der Unsicherheit mit unangenehmen körperlichen Empfindungen einher: Ein flaues Gefühl im Bauch, Herzrasen, Schweißausbrüchen oder dem Gefühl, dass der Atem durcheinander gerät.
Ich möchte dir nun einen Weg zeigen, wie du mit diesen Glaubenssätzen und den damit einhergehenden Gefühlen umgehen kannst.
Wichtig in dem Zusammenhang ist, deine Gefühle erst einmal wahrzunehmen und zu fühlen. Denn Verdrängen führt leider dazu, dass der Stress im Unterbewusstsein immer größer wird.
Dann geht es darum, die Glaubenssätze zu hinterfragen. Wie wir gesehen haben, sind Glaubenssätze oft übernommene Gedanken, oder Gedanken-Komplexe, die wir in der Kindheit oder auch später mitbekommen haben. Sie sind wie Autobahnen im Gehirn, die wir immer und immer wieder befahren – aber sie sind selten wahr.
Im nächsten Schritt kannst du üben, neue Gedanken zu denken. Dank der Neuroplastizität können wir unser Gehirn so „umbauen“, dass alte Glaubenssätze-Autobahnen weniger befahren werden und dafür neue, hilfreiche Gedanken-Trampelpfade angelegt werden.
Du wirst bemerken, dass Gedanken eng verknüpft sind mit unseren Gefühlen. Gefühle entstehen aus Gedanken. Vereinfacht gesagt: Wenn wir unsere Gedanken ändern, können wir beeinflussen, wie wir uns fühlen.
Und nun lass uns loslegen!
6.2.1. Glaubenssätze sind Lügen – so enttarnst du sie
- Denk an die Situation, in der du sichtbar werden möchtest.
Beispiel: Ich möchte ein Youtube-Video machen und Menschen zeigen, wie sie ein Problem für sich lösen können. - Schreibe alle Gedanken auf, die du zu der Situation hast.
Beispiel: Ich bin nicht kompetent genug. Ich muss noch die Weiterbildung XYZ machen. Was sollen denn meine ehemaligen Arbeitskollegen denken?? - Wähle einen Gedanken aus, der dir besonders stark erscheint.
Beispiel: Ich bin nicht kompetent genug. - Spüre, welches Gefühl dieser Gedanke in dir auslöst.
Beispiel: traurig - Finde Gründe, warum dieser Gedanke nicht wahr ist (Kundenfeedback, erworbene Zertifikate, vergangene Erlebnisse)
Beispiel: Ich habe ein Studium in dem Bereich abgeschlossen! Meine Kundin Heike war begeistert, wie gut ich ihr helfen konnte. Ich muss nicht perfekt sein. - Such dir einen neuen Gedanken, der dir gut gefällt und den du gerne denken möchtest. Wähle aber nur solche Gedanken aus, die du potentiell auch glauben kannst. Du kannst ihn anprobieren wie ein neues Kleid.
Beispiel: Was ich zu sagen habe, ist wichtig und die Menschen müssen es hören. - Welches Gefühl löst dieser Gedanke aus?
Beispiel: Freude - Wo im Körper kannst du dieses Gefühl spüren?
Beispiel: warmes Gefühl im Brustkorb - Welche Körperhaltung passt zu diesem neuen Gedanken?
Beispiel: Aufrichtung, Schultern entspannen sich, offenes Gefühl im Brustbereich - Übe den Gedanken, das Gefühl und die Körperhaltung so oft es geht.
Damit aus deinem neuen Gedanken auch wirklich eine Gedanken-Autobahn wird, ist es wichtig, den Gedanken zu wiederholen. Also überleg dir am besten einen Zeitpunkt, wo du deinen neuen Gedanken üben willst. Vielleicht morgens nach dem Aufstehen, immer bevor du sichtbar werden willst, oder wenn du irgendwo warten musst.
6.3. Hilf deinem Nervensystem, sich sicher zu fühlen
Eine wichtige Rolle im Erleben von Sicherheit spielt unser autonomes Nervensystem. Die Exterozeption ist der Teil des Nervensystems, der unbewusst ständig unsere Umgebung überwacht, um mitzubekommen, wenn eine Gefahr droht. Wenn wir Trauma erfahren haben, ist unser Nervensystem oft im Alarm-Modus. Die alte Trauma-Energie ist noch da, sie wurde nicht abgebaut. Wir können unsere Exterozeption und damit unser Nervensystem unterstützen, Sicherheit zu empfinden, indem wir aktiv den Raum mit unseren Augen erkunden.
Diese Übung kannst du überall machen: in der Straßenbahn, beim Spazierengehen, wenn du einen Raum betrittst. Mach die Übung am besten auch, wenn du sichtbar werden willst. Damit unterstützt du dich und dein Nervensystem und fühlst dich ruhiger und gelassener. Die Übung hilft dir auch dabei, Achtsamkeit zu entwickeln und stärkt deine Verbindung zu deinem Körper.
6.3.1. Übung: So stellst du Sicherheit im Nervensystem her
Schau dich langsam und achtsam in deiner Umgebung um, als würdest du ein Gemälde betrachten. Lass deinen Kopf dem Blick folgen. Schau nach oben, unten, hinter dich. Beobachte, ob ein tiefer Atemzug oder ein Gähnen auftaucht. Nimm wahr, wie sich dein Zustand verändert.
Wenn du regelmäßig übst, dein Nervensystem zu regulieren, hat das viele Vorteile: Dein Nervensystem wird wieder „flexibler“ und gewöhnt sich wieder an entspanntere Zustände. Du wirst resilienter gegenüber Stress, verbesserst deine Konzentration und stärkst die Verbindung zu deinem Körper. Zudem entwickelst du mehr Vertrauen in deinen Körper und deine Fähigkeit, herausfordernde Situationen zu bewältigen.
6.4. Das kannst du im Alltag machen
Du kannst jeden Tag etwas dafür tun, dich mehr und mehr wohl zu fühlen dabei, dass du gesehen wirst und sichtbar bist. Ganz unbewusst machen wir uns nicht nur mit unseren Glaubenssätzen klein, sondern auch körperlich. Das können minimale Bewegungen sein: Ein leicht eingezogener Kopf, etwas hochgezogene Schultern. Einem außenstehenden fällt das womöglich gar nicht auf. Aber es macht was mit deinem Gefühl und deinem Denken. So, wie du mit deinen Gedanken auf deine Gefühle und deinen Körper einwirken kannst, veränderst du mit deiner Körperhaltung, wie du dich fühlst.
Wenn du durch eine belebte Fußgängerzone gehst oder in der vollen Straßenbahn stehst, sei dir bewusst, dass du da bist und dass du sichtbar bist. Schau die Menschen an und nimm wahr, wie sie dich ansehen.
Mach dich groß, richte dich beim Gehen auf.
Mach dir bewusst, dass du Raum einnimmst und spüre diesen Raum.
Spür deinen Körper, während du irgendwo sitzt, stehst oder läufst. Bewohne deinen Körper.
Wenn du das regelmäßig übst, wird es irgendwann zu deinem Habitus und es wird ganz selbstverständlich für dich, sichtbar zu sein und Raum einzunehmen. Und es verändert auch augenblicklich deine Stimmung. Probier es mal aus!
6.5. Du musst dein Päckchen nicht allein tragen
Was wir Frauen uns immer wieder bewusst machen dürfen: Wir müssen es nicht alleine schaffen, sondern wir dürfen uns Unterstützung holen.
- Eine sehr inspirierende Unterstützung können weibliche Vorbilder sein, zu denen du aufschaust, deren Leistung du feierst und die auf eine Weise sichtbar sind, die du angenehm findest.
Vielleicht hast du Lust, dir eine Mentorin zu suchen, die dich anfeuert, die dich mit ihrem Netzwerk unterstützen kann und die dir Hilfestellung geben kann, wenn du mit etwas struggelst.
Geh auf Netzwerkveranstaltungen, schließ dich mit anderen Frauen zusammen, finde Kooperationen und Sparringspartnerinnen. Zusammen ist es viel einfacher und du hast immer Leute, mit denen du dich austauschen kannst über das, was dir gerade (noch) schwerfällt.
- Such dir eine Coachin, die dich dabei unterstützen kann, deine Angst vor der Sichtbarkeit zu überwinden und deine hinderlichen Glaubenssätze zu transformieren.
Zusammen ist es nicht nur viel leichter, es macht auch mehr Spaß! Hinweise für Mentoring und Netzwerkveranstaltungen findest du in den Ressourcen!
7. Lass dich nicht länger von alten Traumata einschränken und werde sichtbar
Du weißt nun, warum die Diskriminierung von Frauen bis heute nachwirkt und wie Trauma von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Du kennst Methoden, wie du deinem Nervensystem ein Gefühl von Sicherheit zurückgeben kannst und wie du deinen Glaubenssätzen, die dich davon abhalten, sichtbar zu werden, die Wucht nimmst und sie Schritt für Schritt transformierst.
Wir müssen uns nicht länger unserer Geschichte unterwerfen. Wir dürfen Verantwortung für uns übernehmen, Glaubenssätze hinterfragen und altes Trauma integrieren. Nicht nur für uns, sondern auch für die Frauen vor uns und für die, die nach uns kommen werden.
Die Zeit ist gekommen, dass wir Frauen endlich sichtbar werden und die Welt mit unseren Ideen, unserem Handeln und unserer Sichtweise bereichern. Also: Zeig der Welt, was du zu bieten hast!
Du möchtest Unterstützung dabei, sichtbar zu werden? Dann schreib mir gerne und buche ein unverbindliches Kennenlerngespräch. Ich freu mich auf dich!
8. Ressourcen
TEDx-Talk: Christina Richter: From unseen to unstoppable: Women’s Rise to the Top
- Ada Lovelies https://blog.gdsys.de/blog/2022/12/12/ada-lovelace-visionaerin-und-erste-programmiererin-der-welt/
Hedy Lamarr: https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/patentefrauen/hedylamarr/index.html
- Mentoring: https://mentorme-ngo.org
- Netzwerkveranstaltungen in Sachsen, Thüringen und Baden-Württemberg: https://netzwerken-leipzig.de
Fußnoten:
[1] Verena König: Bin ich traumatisiert? 7. Auflage, 2022, S. 187
[2] Handbuch Psychotraumatologie. Hrsg. von Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger, Heide Glaesmer, Silke Brigitte Gahleitner, 3. Auflage 2019, S. 112
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Natürlich freue ich mich auch über Post von dir!
Liebe Ute, dein Blogartikel ist ja ganz toll, sooooo umfassend, Geschichte der Frauen, Traumata, Glaubenssätze und was ich für sehr wichtig halte, der Weg aus dem Schlamassel. Oft liest man nur, das ist so und so und die Ursache ist das…. Ja, schön und nun? Was mach ich jetzt damit? Also ich bin regelrecht begeistert 🤩
Vielen Dank und liebe Grüße 💕
Kerstin
Danke! Es freut mich sehr, dass dir der Artikel gefällt! Ja, wenn Blogartikel keine Lösungsmöglichkeiten anbieten, dann fehlt eindeutig etwas. Das Schlimme zu benennen ist das eine, aber wir wollen ja nicht darin stecken bleiben sondern schauen, dass wir da raus kommen. 🙂
Liebe Grüße zu Dir!